Übererbte Erkenntnis

Zum 20. Todestag des Musiklehrers und Komponisten Ernst Irtel

 Walter Hutter

Ernst Irtel verstarb am 8. Juli 2003. Nach 2 Jahrzehnten werden wir von der verstrichenen Zeit überrascht. War es nicht gefühlt erst unlängst? Lebensvoll präsent erscheint sein geistig-musikalisches Erbe. Wir sind es also, die zu Erben wurden: Was haben wir von ihm geerbt, zu was verpflichtet uns die nunmehr überebte Erkenntnis (vgl. Paul Hindemith: Johann Sebastian Bach – Ein verpflichtendes Erbe, Schott 1950, S. 23) nach dem Leben und Wirken unseres Lehrers?

Irtel schrieb in einem autobiografischen Manuskript (Textstellen hier in Schrägdruck) von einer glücklichen und harmonischen frühen Kindheit: 1923. Das Jahr, in dem ich zur Schule ging, 1. September, ich war 6 ½ Jahre. An meinen ersten Schultag hab ich keine Erinnerung. Mein Leben erhielt ein neues Gesicht, es bekam eine geregelte Ordnung: 8-12 Unterricht, ab 1 Uhr Schulaufgaben; nachmittags 1-2 mal Gesang und Handfertigkeit. Meine Freizeit? Noch keine Musikmanifestationen festzustellen. Der Großvater mütterlicherseits hatte eine Druckerei zusammen mit einer Buchhandlung gegründet. Für Irtel war die Druckerei eine Inspirationsquelle. Wie gedruckt wurde, die großen, wunderbaren Maschinen; wie eine Zeitung entsteht, die großen Setzerkasten in der Druckerei; die Grogerischen Mädel begrüßten mein Kommen, ließen mich manches Papier scherzweise bedrucken. Mama: Geh nicht wieder hin, dort ist schlechte Luft. (Maschinen-Öl). Umsonst, es zog mich hin. Einschneidend werden für den Grundschüler Irtel dennoch vor allem künstlerische Impulse: Musik und Theater. Mein Freund Hans Ungar machte mir klar – wir wurden beide in diesem Jahr 1923/24 sieben Jahre alt – daß man tausende km von hier (Mühlbach) auf drahtlosem Weg Musik wird hören können, man baut jetzt solche Apparate, sie heißen Radio. Tatsächlich fand im Jahr 1923 in Deutschland das erste Radiokonzert statt (Kopfhörer). Mein Vater – stets fortschrittlich – tat sich nun mit einem Techniker zusammen und konstruierte aus gekauften elektrischen Bestandteilen ein Radio. Ort: Tatas Studierzimmer, Eintritt verboten, nicht einmal Mama durfte hinein: Überraschung! Der für mich historische Augenblick dann: der Tata setzte mir den Kopfhörer auf und ich hörte ganz nahe das feine Ticken einer Weckeruhr. Das ist der Wiener Wecker, das Pausenzeichen von Radio Wien! (mein Vater). Vor jeder Sendung war es zu hören, 2-5 Min. (Spannung). Und dann die Ansage: Hallo … wir übertragen aus der Wiener Staatsoper die Zauberflöte… Und dann erklang die Musik – wie aus einer anderen Welt. Nie erlebter Zauber – Verzauberung! (…) Musik über Musik hörten wir, ein traumhafter Reichtum tut sich mir auf und näherte mich siebenjährigen Jungen meinem Vater. (…) Wir gehörten zu den ersten, die ein eigenes Radio hatten. Die Erwartung und Hochstimmung, wenn dann die Gäste kamen: Ohne Kinder, ich das einzige Kind unter den Erwachsenen. Zur selben Zeit erhielt ich die ersten Klavierstunden bei Frl. Elsa Heitz (…), wohin ich 2-mal in der Woche ging. Musikerlebnis am Radio, erste Klavierstunden: ein Drittes kam dazu: die Aufführungen unseres Musikvereins, der unter der Leitung von Musikdirektor Prof. C. Münch damals aufblühte. (…) Bach lernte ich in der Kirche kennen, wenn ich Organist Prof. Münch bei Bach- und Reger-Orgelwerken die Notenblätter umdrehen durfte und mich bemühte, die komplizierte Musik mitzulesen – Stunden voller Spannung und Gespanntheit. In unserem Salon übte ich fleißig Klavier; bärbeißig manchmal, zerschlug einmal jähzornig Taste und Hämmerchen fis in der Mittellage des seelenvoll-intimen Rösler-Flügels. Die Eltern schwiegen dazu, doch werde ich, damals 10jährig, den Blick des Klavierstimmers nicht vergessen (für ihn eine Entweihung seines Berufes).

Das Interesse setzt sich erkennbar zum Musikalischen hin fort. Ich, 10 Jahre, setze mich in den ersten Wochen des Beethoven-Jahres 1927 (100. Todestag von Beethoven) auf die südliche Galerie des Auditoriums unseres Gymnasiums. Das Orchester unter der Leitung des Musikdirektors Carl Münch, sehr jung, blond und schlank und von mir wie etwas Höheres verehrt. In der Mitte des Orchesters am schwarzen Blüthner-Konzertflügel eine ebenfalls junge Dame, Frl. Martha Krasser, die ich mit den Augen nur nicht verschlinge. Man probte Beethovens Klavierkonzert in G-Dur. Als die Musik begann, überschüttete es mich… bald heiß, bald kalt, wie in niegekannten Schauern – wahrscheinlich mein erstes bewußtes Musik-Erlebnis.

Irtel berichtet von einem weiteren prägenden Ereignis (um das Jahr 1928, in seinen ersten Gymnasiumjahren): Daß Möckels Deutschstunden mein Musikverständnis in hohem Grade förderten, hab ich anfangs unbewußt empfunden, jedenfalls zogen sie mich stark an. Zu einmalig großem Musik-Erlebnis wurde mir eine Deutschstunde – oder waren es zwei? – mit Goethes Erlkönig und Fischer. Wir hatten sie gewissenhaft durchgearbeitet, da führte er uns in das Auditorium, wo der schwarze Blüthner-Flügel stand und sang, sich begleitend, uns die Schubert-Vertonungen der beiden Balladen vor und machte uns u.a. auf die Klavierbegleitung aufmerksam, also die illustrierende Rolle des Instruments: der rasende Ritt, das Wiegen und Werben (Erlkönig), die zunehmende Steigerung, die jedesmalige Dissonanz bei mein Vater…, etc., die Pause, Ende des Rittes… Mit dieser fast schon anatomischen Analyse der beiden Schubert-Goethe-Lieder – übrigens geschickt und gekonnt gemacht – hat er mir einen ersten Blick eröffnet in den inneren Bau einer Komposition. Vorgebildet war ich ja schon durch die regelmäßigen Klavierstunden, nun kam, angeregt durch diese analytische Stunde das bewußte Hören eines musikalischen Werkes.

Als Schüler haben wir Ernst Irtel über alles geschätzt. Die Erinnerungen an seine Musikstunden sind heute noch Kostbarkeiten. Wir (einige Interessierte) besuchten ihn auch gerne zu Hause. Anstelle von Hausaufgaben traten dann seine Gastfreundschaft, sein Klavier, seine Schallplatten, seine Erzählungen und sein Humor. Doch hätten wir es, bei aller Vertrautheit, nie gewagt seine Güte zu missbrauchen, sie auszunutzen. Wir klagten ihm einst über eine bevorstehende, uns entsetzlich erscheinende Klassenarbeit. Am folgenden Tag tauchte er in der Türe des Klassenzimmers auf, als alle bereits das gefürchtete Blatt Papier gezückt hatten und den Füller in der Hand hielten, und flüsterte im höflichsten Ton der Lehrerin zu. Daraufhin bekamen wir ein Zeichen und durften gehen. Den Rest der Stunde verbrachten wir im Festsaal, wo Irtel einem Bariton den letzten Schliff gab. Wir hörten zum ersten Mal eine Opernstimme, es war überwältigend.

Unvergesslich wurde auch das tägliche Leben, wann immer wir Schüler diese außergewöhnliche Persönlichkeit um uns herum hatten. Als Irtel seine Mediascher Wohnung in der Forkeschgasse räumte, grub sich eine alte Mauer in unser Gedächtnis ein. Es war die Mauer hinter einem seiner Schränke, ein Loch führte direkt nach draußen. Dann kam der Umzug seines Klaviers in die „gura cîmpului“ (Mediascher Stadtviertel). Scharen von Schülern zerrten an dem Gerät, um es durch das kleine Balkonfenster in den neuen Wohnraum zu befördern, des Lehrers verschmitzte Sorge als Ansporn wissend.

Seine Wohnung war vor allem auch ein Ort der Literatur. Der Kindheitsimpuls, von dem Irtel berichtete, wird uns jetzt offenbar. Die Kulturtaten der Menschheit leuchteten in Irtels Erzählungen auf und waren von lebendiger Ehrfurcht getragen. Aus vollen Regalen schenkte er uns regelmäßig Bücher. Eine Goethe-Biographie zum Beispiel oder Hamsuns Segen der Erde, Erzählungen von Tolstoi und vieles mehr. Wir lasen sehr aufmerksam, denn der Schalk fragte uns aus. Details wollte er wissen, als kenne er die Bücher nicht. Doch wenn wir einmal einen Unsinn erzählten, überführte er uns mit einem freundlich spitzen „so so …!?“.

Zu einem seiner vielen öffentlichen Vortragsabende in Mediasch engagierte er uns für einen besonderen Auftritt. Ihm war aufgefallen, dass in seinen Vorträgen das gute Bürgertum, bei bester Musik von Mozart und Schubert, auch gerne einmal ein Auge schloss, um sich auf diese Weise dem Genuss besonders hinzugeben. Er legte uns daraufhin Das große Lalula von Christian Morgenstern vor und ließ uns die Zeilen des Gedichts auswendig lernen. Danach weihte er uns ein. Wir sollten gut verteilt in der Zuhörerschaft sitzen und bei einem bestimmten Zeichen mit der Rezitation beginnen: (erster Schüler steht plötzlich auf und spricht laut) Kroklowafzi? Semememi! Seiokrontro – prafriplo, (zweiter Schüler erhebt sich ganz woanders und setzt fort) Bifzi, bafzi; hulalemi: quasti basti bo, u.s.w.. So geschah es dann auch. Entsetzen machte sich beim aufgeschreckten Publikum breit, doch nach und nach erkannten alle Zuhörer sowohl die Absicht als auch den Urheber des Spektakels und es wurde ein wunderbarer Abend.

Seine literarische Ader verwirklichte Irtel besonders in seinem anrührenden Buch von 1993 über den Lieblingsschüler von Chopin, den Mühlbacher Pianisten Carl Filtsch, der bereits im Jugendalter in Venedig verstarb (Zitierungen daraus im Folgenden in Schrägschrift).

Filtsch schrieb kurz vor seinem Tod nach Wien an seinen Bruder Josef: Mein lieber Bruder! Ich habe weniger Schmerzen, bin aber sehr schwach, wie Du aus meinem Schreiben ersiehst. Wenn Du wirklich kommen willst, verlange bitte zwei Wochen Urlaub. Du sollst aber um meinetwillen Deine Arbeit nicht vernachlässigen; jedoch 4 oder 5 Tage mit Dir würden mich glücklich machen. Ich wünsche nur, Dich umarmen zu können, um Dir wieder für Deine große Liebe zu danken … Josef antwortete: Sage dir selbst, daß auf der ganzen Erde Dich niemand – selbst die Eltern nicht ausgenommen – so aufrichtig und innig liebt wie Dein alter Vaterbruder Josef. Ob Carl diese letzten Zeilen noch vernommen hat, wissen wir nicht. Gräfin Bánffy begleitete Carl bis zu seinem Tod am 11. Mai 1845, 1 Uhr früh. Auf der Begräbnisinsel Santo Cristofore wurde er beerdigt. Eine endlose Reihe von Gondeln begleitete ihn auf seiner letzten Reise, und diese unzähligen schwarzen Särge machten einen glauben, als wäre ganz Venedig gestorben, aus Liebe und Schmerz (Josef). Zehn Jahre danach hatte Josefine, später verehelichte Bielz, Carls Grab aufgesucht und schrieb in ihr Tagebuch (28. August 1855): Blumen, von freundlichen Händen gepflanzt, bedecken das Grab … Röschen vom Grabe ist alles, was ich der Mutter bringen kann, die Zurückgebliebenen müssen sich ja mit so wenig von denen begnügen, die einmal in voller Lebenslust geatmet. Und doch begnügt sich das zerrissene Mutterherz mit einer Blume, sie kommt ja von dem Boden, der das Teuerste birgt. Später wurde Carl Filtsch umgebettet und ruht heute auf dem venezianischen Friedhof San Michele. Und noch immer schmückt sein Grab das von der Gräfin Bánffy errichtete marmorne Relief. Irtel schließt sein Buch mit dem Vermerk, er habe versucht, Carl Filtschs Bild aus dem Staube der Vergangenheit ans Licht zu holen und es dem Schicksal des Vergessenwerdens zu entreißen. Dieses, mit den höchsten Gaben der Kunst beschenkte Kind, hat vor hundertfünfzig Jahren durch sein Spiel, das auf europäischer Höhe stand, seine Mitwelt zu höchster Begeisterung entzündet und der Musik eines der größten Meister seiner Zeit – Chopin – zu internationaler Berühmtheit verholfen. Seien wir dessen eingedenk, die wir noch ein geistiges Bewußtsein in uns tragen, daß es ein siebenbürgisches Kind war! Ernst Irtel hat die Filtsch-Forschung vorangebracht, sie blieb für Ihn ein lebenslanges Anliegen. Er beschäftigte sich mit unveröffentlichten Manuskripten und Briefen aus der Filtsch-Zeit (er zeigte mir persönlich umfang- und aufschlussreiche Dokumente) und war bis ins hohe Alter an weiteren Recherchen interessiert.

In der Siebenbürgischen Zeitung (SbZ) finden wir am 31. Januar 1993 folgende Notiz: In ihrer Ausgabe vom 10. Oktober 1992 berichtete diese Zeitung über eine denkwürdige Begegnung von Prof. Ernst Irtel mit der Geigerin Anne-Sophie Mutter. Im Vorfeld der Zusammenkunft hatte der aus Mühlbach stammende Komponist und Musikpädagoge im Heimathaus Siebenbürgen auf Schloß Horneck zu Gundelsheim einen Vortragszyklus mit Plattenaufnahmen von Interpretationen bedeutender Violinkonzerte aus der Musikgeschichte durch die bekannte Geigerin veranstaltet und im Namen seiner Hörer einen Dankesbrief an die Künstlerin gerichtet. Dafür zeigte sich die Geigerin kürzlich mit einem großzügigen Geschenk erkenntlich. Professor Irtel teilte der Redaktion diesbezüglich folgendes mit: Die große Geigerin, Professorin Anne-Sophie Mutter, beschenkte die Hörer meines Musikkreises zu Weihnachten mit einem prachtvollen CD-Plattenspieler, was wir als seltene Auszeichnung empfinden. Ich wiederum widmete, ebenfalls zu Weihnachten, dem einjährigen Töchterchen der Künstlerin, Arabella Sophie Wunderlich, ein von mir komponiertes Schlaflied für Mirjam.

Besonders eindrücklich schildert Irtel selbst seine damalige Begegnung im Jahr 1992 mit Anne-Sophie Mutter (Abdruck in SbZ, 10. Oktober 1992, im Folgenden in Schrägschrift). Sie wurde durch Orchestermitglieder des Württembergischen Kammerorchesters in Heilbronn ermöglicht, zu deren Proben Irtel über viele Jahre als Dauergast eingeladen war.

Noch bevor es bekannt wurde, dass die berühmte Geigerin Anne-Sophie Mutter mit dem Württembergischen Kammerorchester Mitte September in Heilbronn konzertieren sollte – vielleicht auch in Vorahnung von etwas Außergewöhnlichem, das mir bevorstand –, begann ich auf Schloss Horneck zu Gundelsheim eine Vortragsreihe mit Aufnahmen der großen Geigerin. Ich führte meine Hörer ein in Vivaldis Jahreszeiten, Bachs E-Dur-Violinkonzert, Mozarts Violinkonzerte und in das von Beethoven, machte sie mit Mendelssohns E-moll-Konzert und dem Brahmsschen bekannt; auch genossen wir die Zigeunerweisen des Spaniers Pablo de Sarasate und die Symphonie espagnole des Franzosen Lalo.

Wie ein Deus ex machina erschien dann diese Konzertanzeige mit Anne-Sophie Mutter in Heilbronn. Eine wundervolle Fügung war es auch, dass wenige Tage vor dem Konzert ein Trio desselben Orchesters bei uns auf Schloss Horneck ausnehmend schön musizierte. Ich wurde bei den Damen und Herren vorstellig, die uns auch menschlich imponierten, und fragte sie, ob sie mich denn mit Anne-Sophie Mutter bekannt machen könnten, ich wolle der Künstlerin im Namen meiner Hörer für den einmalig-schönen Genuss danken, den uns ihre Plattenaufnahmen bereitet hatten. Auf Anhieb erhielt ich ein Ja-Wort. Sie sei für so etwas empfänglich und leicht ansprechbar. Wir vereinbarten, ich möge zur vorletzten Konzertprobe kommen, …wir versichern Sie jetzt schon, dass alles gut laufen wird. Und wahrhaftig, alles lief wie geölt, Gespräche, Telefonate hin und her … und schließlich, nach einigen Tagen, sah ich mich am verabredeten Proben-Nachmittag als einziger Zuhörer im 2000 Sitze fassenden Konzertsaal der Harmonie, spannungsgeladen der verheißenden Dinge harrend. Während das Orchester noch eifrig stimmte, bahnte sich ganz unauffällig eine eher mädchenhaft wirkende Gestalt den Weg nach vorn, und blieb schließlich vor dem Orchester stehen. An Gesicht und Geige unschwer zu erkennen: Anne-Sophie Mutter. Die sich nun entfaltende Probe war ein Kabinettstück, die Verständigung der Geigerin mit dem von Prof. Faerber perfekt geschulten und virtuos geführten Orchester ging geschmeidig-gelöst, in vollendeter Harmonie und Eleganz vor sich. Sarasates Carmen-Phantasie wurde zunächst vorgenommen, ein sprühendes Werk, Geige und Orchester warfen sich berauscht die Feuerbälle der Opernmelodien von Bizet zu, südländisch-mittelmeerische Musik, voll dunkel-schwelender Leidenschaft. Wie geschaffen für die Alleskönnerin Anne-Sophie Mutter, die alle Musik-Stile souverän meistert. Ich kannte das Spiel der Künstlerin bloß von Platten und Bändern, was ja jedes Mal eine bezwingende Erfahrung ist, nun erlebte ich es zum ersten Male wirklich und ringe seit Tagen um Worte, die diesen Zauber wiedergeben könnten. Unbeholfen beginne ich von dem Blendwerk ihrer Technik zu reden: sie ist vollendet, undenkbar ein weiterer Schritt der Perfektion. Und nie Technik um ihrer selbst willen, was wohl müßig zu sagen ist; immer steht sie im Dienste des Ausdrucks. Und wie schlägt das den Hörer in Bann, wenn Anne-Sophie Mutter die Dämonie einer Carmen in ihrer sinnverwirrenden Verführungskunst und tragischumwitterten Todesbedrohtheit gestaltet: vor mir entstand sie lebenswahr und in beängstigender Plastizität. Dieses Spiel schmerzt geradezu ob seiner Vollendetheit, und es war ein wahrer Trost, dass Anne-Sophie Mutter einen so schönen, einen vollendet schönen Geigenton besitzt, der dich wie ein schützender Mantel umhüllt. Er ist in der tiefen Lage „warm durchblutet“ (bei Carmen wirkt er geradezu unheimlich), die Mittellage singt in klassischer Schönheit, während die hohen und höchsten Töne sich dem Äther vermählen, der Erde entfliehen. (Ähnliches sollte ich der Künstlerin bald selbst sagen.) Zurück zu Carmen: Sie wurde mir hier und am Konzertabend neu geschenkt! In ähnliche Regionen versetzte mich das nächstgeprobte Stück, Sarasates Zigeunerweisen. Der Zuhörer fühlt sich da gelöster. Heimatlich wurde ich angesprochen, zumal als das Herzstück der Komposition aufklang, das ungarische Csak egy kissléany, das Anne-Sophie Mutter so echt gestaltete, als hätte sie’s von Kindertagen her gekannt (ich sollte sie das später fragen, sie meinte entschieden, nie ungarische Lieder gehört zu haben).

Schließlich kam die Proben-Pause, das Orchester zerstreute sich, und ich wurde hinauf zur Bühne gebeten, wohin ich zur Künstlerin geladen war. Nach kurzer Vorstellung wollte ich einen feierlichen Ton anstimmen – schließlich stand ich einer musikalischen Weltberühmtheit gegenüber –, doch die einnehmend-heitere Freundlichkeit, mit der mir die Künstlerin die Hand reichte und mich zum Sitzen nötigte, zwang mich geradezu, ganz natürlich zu sein. Auf ihren Wunsch, eine gemeinsame Aufnahme mit mir zu machen, eilte auch gleich jemand herbei und fotografierte uns. Dann begann ein 20 Minuten langes Gespräch mit ihr, das mir unvergessen bleibt, insonderheit auch wegen der zutiefst menschlichen Art, wie ich Anne-Sophie Mutter erlebte, weit entfernt von jeder Pose. Den ernsten Blick, der aus den Tiefen des Gefühls zu kommen scheint, ergänzt eine ihr angehörende Anmut in Sprache und Bewegung zu seltener Harmonie. Nachdem ich ihr den nachhaltigen Eindruck geschildert hatte, den das Vorspiel ihrer Plattenaufnahmen bei uns auf Schloss Horneck hinterlässt – sichtlich erfreute sie das Ansteigen der Hörerzahl von anfangs 40 auf 60 –, sprach sie davon, dass Musik ihr seelische Aufrichtung, ein Refugium bedeute, ein Sichbesinnen in unserer so hart bedrängten Zeit. Dann berührte sie Persönliches. Seit ihrer Kindheit als Geigerin auf der Bühne füllte lange Zeit die Musik ihr Leben aus. Mit der Zeit aber befriedigte sie das nicht mehr, und sie suchte nach einem menschlichen Gegengewicht. Dieses habe sie nun in der Ehe gefunden. Meine ganze Freizeit gehört jetzt meinem Kind. Wir leben ganz zurückgezogen. Wieder auf ihre Musik zurückkommend, verglich ich sie mit dem Altmeister Yehudi Menuhin. Sie wehrte bescheiden ab. Doch gnädige Frau, meinte ich darauf, Sie ergänzen die hohe Vergeistigung Menuhins mit der fraulichen Wärme ihres Spiels.

Leider zwang die Wiederaufnahme der Probe, das Gespräch zu beenden. Ich überreichte ihr schließlich einen Dankesbrief meiner Hörer, dazu Hermann Hesses Schriften über Musik, die sie freudig-überrascht entgegennahm… Das phänomenale Konzert am drauffolgenden Abend in der Harmonie zu Heilbronn war eine begeisterte Kundgebung für Anne-Sophie Mutter; 2000 hingerissene Menschen applaudierten viele Minuten lang. Nach der Aufführung sah ich Anne-Sophie Mutter dann noch einmal, während sie im Künstlerzimmer heiter-liebenswürdig Autogramme schrieb. Es gelang mir noch, ihr meine kleine Carl-Filtsch-Biographie zuzustecken. Sie fragte, mehr mit den Augen: Was ist das? Ich darauf: Die Geschichte eines jungen Pianisten, der auch einmal ein Wunderkind gewesen ist.

Irtel vermittelte leidenschaftlich und pädagogisch mitnehmend Musik und komponierte Zeit seines Lebens. Die Siebenbürgische Elegie ist weithin bekannt, seine Wirkung als Chorlehrer ebenfalls. Die Uraufführungen seiner Miniaturen für Violoncello und Klavier (Elizabeth Ramsay und Christof Roos) und seiner Lieder für Singstimme und Klavier (Marlene Mild und Torsten Kaldewei) fanden in den Jahren 1996 und 1997 statt. Dieser Zeit widme ich in meinem zu Irtels 100. Geburtstag erschienenen Buch ein ganzes Kapitel (Vom Geistigen in der Musik – Ernst Irtel als Pädagoge und Komponist, Schiller Verlag 2017). Die 90-er Jahre waren zweifelsohne ein bedeutender Höhepunkt seines Lebens.

In Gundelsheim auf Schloss Horneck wurde kurze Zeit nach dem Tod von Ernst Irtel eine Bronzebüste des siebenbürgisch-sächsischen Komponisten und Musikpädagogen eingeweiht (am 8. Januar 2005, vgl. SbZ, 20.1.2005). Hannes Schuster würdigte das Werk von Kurtfritz Handel. Die Büste hätte keinen besseren Platz finden können als im Festsaal, denn hier hielt Ernst Irtel kontinuierlich musikhistorische Vorträge, bis nur wenige Wochen vor seinem Tod. Hannes Schuster würdigte den Menschen Ernst Irtel, den der Bronzekopf in lebendige Erinnerung ruft, vor allem und allen anderen aber sein Tun zur Förderung des Schönen, die Generosität, mit der er trotz windiger Zeitläufe, die er und wir zu durchleben hatten, trotz vielfachen Sinnverlusts und zunehmender Kälte in unserer entgötterten wie entpersönlichten Welt dem Wohlklang Raum geschaffen hat in unserem Fühlen und Denken. (…) Er hat Schönheit verschenkt, und das hundert-, ja tausendfach. Er tat es als Komponist, als Tondichter, wobei der Akzent auf beide Komponenten dieser Wortverbindung, auf die musikalische und die literarische zu fallen hat. (…) So ist wohl keinem Gedicht der siebenbürgischen Literatur eine kongenialere musikalische Umsetzung widerfahren als der Siebenbürgischen Elegie von Adolf Meschendörfer durch die Vertonung Ernst Irtels: Modus und Duktus der hier eigenartig sich vollziehenden, auf engem Raum in sich geschlossenen Klangwelt legen den ganzen Zeichenwert der Sprache des Gedichts offen, machen ihn überdeutlich und nachvollziehbar, indem sie ihn bis in seine letzten Anklänge hörbar werden lassen. (…) Durch seine Hände sind Generationen siebenbürgischer Schüler gegangen, denen er in seinen lebendig gestalteten Unterrichtsstunden und den mitreißenden Chorproben gesangstechnisches, musiktheoretisches und musikgeschichtliches Rüstzeug mit auf den Lebensweg gegeben und sie dadurch befähigt hat, die Schönheiten der Tonkunst nicht nur wahrzunehmen und in ihrer Eigenwelt zu begreifen, sondern sie später als Multiplikatoren auch weiterzureichen.

Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Was haben wir von ihm geerbt, zu was verpflichtet uns die nunmehr überebte Erkenntnis? Zum einen zeigte uns Irtel, wie sein vom Schöpferisch-Künstlerischen ausgehenden Streben für uns eine gerade heute überlebenswichtige Organizität und Humanität unserer Erd-, Lebens- und Wirkensverhältnisse als Inspiration mobilisieren kann – Lebenskräfte und Mut und nicht zuletzt auch Humor (wie der Zettel zeigt, den wir bei einem Besuch an seiner Außentüre vorfanden). Zum anderen bleibt uns natürlich seine Musik, als Noten überliefert, als Tonaufnahmen vorliegend und für weitere neue Aufführungen bereit – hören wir. 

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